Die technische Entwicklung rast in einer Geschwindigkeit voran, die mittlerweile selbst Fachleute manchmal schwindelig macht. Wir sind ständig von Geräten umgeben, die uns das Leben erleichtern sollen, doch was steckt wirklich hinter ihren Funktionen? Wir nutzen Tablets, Smartphones, Smartwatches, generative KI und mittlerweile stehen sogar Quantencomputer, die jüngst bahnbrechende Erfolge verzeichnen und als Schlüsseltechnologie der Zukunft gelten, kurz vor dem Einsatz – ohne genau zu wissen, wie sie im Innersten ticken. Dieses Auseinanderklaffen von „Benutzen“ und „Verstehen“ bringt ein Gefühl der Unterlegenheit mit sich, das der Technikphilosoph Günther Anders bereits in den 1950er-Jahren treffend beschrieben hat. Er nannte es „Prometheische Scham“: Wir schaffen Wunderwerke und sind stolz darauf – zugleich fühlen wir uns klein, weil wir sie nicht mehr durchdringen können.
Prometheus, so will es die griechische Mythologie, stahl den Göttern das Feuer und schenkte es den Menschen. Fortschritt war geboren, aber auch die Saat für Konflikte. Günther Anders übertrug diesen Mythos auf die Moderne: Technik sei unser „Feuer“, das wir zwar entfachen, dessen Konsequenzen und Mechanismen wir aber kaum begreifen. Je mächtiger unsere Erfindungen werden, desto offenkundiger wird unsere eigene Beschränkung. Aus diesem Gefühl heraus entsteht eine tiefe Unsicherheit, die schließlich in Scham umschlagen kann. Wir ahnen, dass wir eigentlich Verantwortung tragen, doch gleichzeitig erscheint alles zu komplex.
Ein aktuelles Beispiel ist Googles Willow-Prozessor, ein Quantenchip, der herkömmliche Computer bei bestimmten Berechnungen weit hinter sich lässt. Man spricht von Rechenleistungen, für die klassische Systeme Millionen oder gar Milliarden von Jahren brauchen würden, während Willow das Ganze in einem realistischen Zeitfenster erledigt. Diese Dimension übersteigt unsere Vorstellungskraft – und genau darin liegt das Problem. Was wir nicht begreifen, können wir kaum kontrollieren. Trotzdem verändert die Quantenphysik gerade unser Bild von Datenverarbeitung, Verschlüsselung und Simulationen. Die Frage, wie wir diese Kraft gezielt und verantwortungsvoll einsetzen, stellt sich immer dringlicher.
Die Lücke zwischen unserem technischen „Schaffen-Können“ und unserem „Begreifen-Können“ reißt auf: Wir bauen Geräte, die kaum jemand bis ins Detail versteht. Das macht uns abhängig von jenen, die diese Maschinen programmieren und warten. Wir hoffen, dass es schon gutgehen wird, weil Experten schon wissen, was sie tun. Doch wer kontrolliert sie, wer führt die ethischen Debatten, wer erklärt die Konsequenzen und Langzeitfolgen? Die meisten Menschen winken ab, weil sie sich dem Thema nicht gewachsen fühlen. Der eigentliche Skandal dabei: Das Gefühl der Hilflosigkeit hält uns davon ab, uns aktiv in die Gestaltung dieser Zukunft einzubringen.
Der Willow-Prozessor ist stellvertretend für eine Entwicklung, in der wir immer öfter auf Black Boxes starren, die Entscheidungen für uns treffen sollen. In klassischen Computern können zumindest einige wenige Spezialisten Codes Zeile für Zeile nachvollziehen. Quantencomputer dagegen arbeiten auf Grundlage physikalischer Phänomene, die nicht einmal die klügsten Köpfe restlos erklären können. Wenn wir uns den Implikationen dieser Technologie entziehen, verlieren wir das nötige Bewusstsein dafür, welche Macht darin steckt. Autonome Systeme, lernende Algorithmen und verborgene Optimierungsverfahren greifen so tief in unser Leben ein, dass sich unsere Gesellschaft unbemerkt wandelt.
Unsicherheit paart sich mit einer unterschwelligen Faszination: Es ist beeindruckend zu wissen, dass bestimmte Berechnungen schneller ablaufen, als wir es uns jemals erträumt hätten. Gleichzeitig keimt die Frage: Was passiert, wenn diese Systeme missbraucht werden oder sich gegen unsere Interessen richten? Wer übernimmt Verantwortung, wenn etwas aus dem Ruder läuft? Wir stecken in einem Dilemma zwischen technischem Fortschritt und menschlichem Ohnmachtsgefühl – das ist der Kern dessen, was Anders mit Prometheischer Scham meint.
Die größte Gefahr liegt vielleicht darin, dass wir den Versuch aufgeben, verstehen zu wollen. Wenn wir uns in eine bequeme Passivität flüchten, bleiben wir Zuschauer in einem Geschehen, das wir mit unserer Arbeit, unserem Konsum und unserem (Nicht-)Handeln dennoch selbst antreiben. Dieses Paradoxon – Teil zu sein und doch kein Mitspracherecht zu fühlen – führt zu einer Resignation, die wir uns eigentlich nicht leisten können. Schließlich geht es bei Quantentechnologie und Künstlicher Intelligenz längst nicht mehr nur um Spielereien, sondern um die grundlegende Gestalt einer zukünftigen Welt.
Technik wird nie „nur“ Technik sein, sondern immer auch Macht, Einfluss und Verantwortung. Wer sich auf die mystische Kraft der Quantenprozessoren verlässt, ohne die Konsequenzen zu diskutieren, riskiert, dass sich bestimmte Akteure ungeahnte Vorteile verschaffen. Sei es durch neue Sicherheitslücken, die wir nicht durchschauen, oder durch selbstlernende Algorithmen, die im Hintergrund Daten sammeln und Entscheidungen steuern. Googles Willow-Prozessor steht exemplarisch für diese sich zuspitzende Frage: Können wir unser eigenes Tempo noch überblicken, oder überrennen wir uns selbst?
Unsere einzige Chance, die Prometheische Scham in Grenzen zu halten, besteht darin, dass wir uns selbst wieder mehr zutrauen. Niemand verlangt, dass jeder Mensch einen Quantenchip auseinandernehmen kann. Aber das Bewusstsein, dass wir mit unseren Fragen und unserem Drang nach Aufklärung etwas bewirken können, darf nicht verloren gehen. Sobald wir uns einreden, es sei alles viel zu kompliziert, lassen wir andere darüber entscheiden, welche Wege wir einschlagen.
Genau hier setzt die Hoffnung an, dass wir trotz aller technischen Überwältigung unsere Rolle als aktive Gestalter erkennen. Denn selbst ein Quantenchip bleibt ein von Menschen entworfenes Instrument. Er folgt den Vorgaben, die wir ihm geben. Die Verantwortung für seine Auswirkungen liegt letztlich bei uns. Und vielleicht lässt sich auf diese Weise auch jener Unwucht entgegentreten, die Günther Anders so treffend beschrieben hat: Weder müssen wir uns vor unserer eigenen Schöpfung ducken, noch ihr blind vertrauen. Vielmehr sollten wir Wege finden, sie zu hinterfragen, wo immer es nötig ist – und sie dort zu nutzen, wo sie uns als Gesellschaft tatsächlich voranbringt.