Text zuletzt geändert am 04.03.2024
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Alle hier geteilten Klient:innengeschichten basieren auf realen Ereignissen und wurden mit Zustimmung der betroffenen Personen veröffentlicht. Sämtliche persönlichen Informationen und Namen wurden derart modifiziert, dass keine Rückschlüsse auf die individuellen Personen möglich sind. Zudem bleiben die Identitäten unserer schreibenden Psychologinnen und Psychologen anonym, um eine unvoreingenommene Wahl Ihrer Beratungsperson zu gewährleisten.
Maria, eine stattliche Frau mit sanften Augen und graumelierten Haaren, kam vor Kurzem zum ersten Mal in die Online-Beratung. Ihr Blick glitt unsicher über den Bildschirm, während sie darauf wartete, dass die Verbindung stand. Sie hatte sich diesen Schritt lange überlegt, erzählte sie zu Beginn. Die Stille ihres Hauses, die seit ihrer Berentung noch drückender wirkte, wenn ihr Mann tagsüber bei der Arbeit ist, hatte sie hierhergetrieben.
"Können Sie mich hören?" Maria nickte und antwortete mit einem leisen "Ja".
"Super. Schön, Sie kennenzulernen, Maria. Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Ich... Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll", gestand Maria, ihre Finger nervös ineinander verhakt. "Es ist dieses Gefühl der Einsamkeit, das mich schon so lange begleitet. Selbst wenn ich von Menschen umgeben bin, fühlt es sich an, als ob ein Teil von mir fehlt."
Maria W., 67 Jahre alt und kürzlich in den Ruhestand getreten, hatte ihr ganzes Leben in einer mittelgroßen Stadt verbracht, wo sie als Kosmetikerin arbeitete. Trotz einem scheinbar erfüllten Arbeitsleben und einem aktiven sozialen Leben fühlte Maria sich seit Jahrzehnten innerlich isoliert. Diese innere Leere und Einsamkeit wurde durch die Berentung und den Wegfall ihrer täglichen Routinen noch verstärkt.
Wenn ihr Mann morgens aus dem Haus ging, begann die große Stille. Die Kinder seien bereits seit Jahren aus dem Haus. Gegen Mittag sei es immer am schlimmsten. Sie fürchte sich schon fast, allein zuhause zu sein.
"Es ist eigenartig", sprach sie, "ich fühle mich mittlerweile sogar in Gesellschaft einsam. Es ist, als ob mir ein wesentlicher Teil fehlt, selbst wenn ich unter Menschen bin."
Um der Einsamkeit zu entfliehen, stürzte sich Maria in Erledigungen und Hausarbeit. Sie arbeitete viel im heimischen Garten und hatte sogar angefangen, ein Buch zu schreiben – einen Krimi – das hatte sie sich für die Rente vorgenommen. Sie engagierte sich ehrenamtlich beim Blutspenden und nahm regelmäßig an Frauennachmittagen teil. Trotz ihrer Bemühungen, durch die Organisation von Veranstaltungen und freiwillige Tätigkeiten Anschluss zu finden, bleibt das Gefühl der Isolation bestehen.
„Woran merken Sie denn, dass das Einsamkeit ist, was Sie fühlen?“, fragte ich.
"Manchmal ist es wie ein Gewicht auf meiner Brust, schwer und dumpf, das mir den Atem raubt. Es ist, als würde ich durch tiefes Wasser waten, meine Bewegungen sind träge, und je mehr ich mich bemühe, desto stärker scheint der Widerstand zu sein. Es beginnt oft mit einem Zittern in meinen Händen. Mein Magen zieht sich zusammen. Die ganze Lebendigkeit geht dann aus meinem Körper. Manchmal denke ich: So stell ich mir sterben vor."
"Das klingt nach einer sehr intensiven und körperlich spürbaren Erfahrung der Einsamkeit. Können Sie sich an einen Moment erinnern, in dem dieses Gefühl zum ersten Mal so stark auftrat? Was war in dieser Zeit in Ihrem Leben los?"
„Puuh, das muss ewig her sein“ – entgegnete Maria und dachte eine Weile nach. Ein paar Sekunden war es still in der Leitung. Dann sagte sie, sie könne sich daran erinnern, dass sie dieses Gefühl schon mit Ende 30 gehabt habe. Da könne sie sich bewusst erstmalig dran erinnern.
„Was war damals in Ihrem Leben los?“, fragte ich.
„Wir sind umgezogen und ich habe den Job gewechselt. Da war damals viel Veränderung in unserem Leben.“
„Das heißt, Ihr soziales Umfeld hat sich damals stark verändert und Sie hatten eine Zeit, wo Sie mehr oder weniger mit Ihrem Mann auf sich selbst zurückgeworfen waren“, entgegnete ich fragend.
„Ja, kann man so sagen“, antwortete die Klientin kurz.
Sich in einer solchen Lebenssituation vorübergehend einsam zu fühlen, wunderte mich nicht. Wenn man aus seinem bisherigen sozialen Gefüge herausgeht und sich an anderer Stelle, auch wenn es in der gleichen Stadt ist, mehr oder weniger eine neue Umgebung aufbauen muss, kann das mit Gefühlen der vorübergehenden Isolation einhergehen. Ich setzte die Spurensuche also fort.
„Und davor? Hatten Sie diese Gefühle noch nie? Vielleicht in früheren Lebensabschnitten?“
„Sie meinen in meiner Kindheit?“, fragte die Klientin rückversichernd.
„Zum Beispiel.“
„Nein. Nie. Ich weiß, Psychologen gehen immer gerne auf Nabelschau und gehen in die Kindheit zurück. Das ist auch sicherlich in vielen Fällen richtig. In meinem Fall kann ich aber sagen, ich hatte tatsächlich Glück mit meinen Eltern. Ich war Einzelkind und meine Eltern haben sich sehr auf mich gefreut und bei uns zu Hause war es sehr harmonisch. Es gab eigentlich wenig bis keine Streitigkeiten, und auch wenn ich mich mit Leuten aus meiner Generation unterhalte, sehe ich, dass es ja in vielen Elternhäusern häufig auch anders zugegangen ist. Dass da Gewalt und solche Dinge an der Tagesordnung lagen. Das war bei uns nie ein Thema. Ich kann wirklich sagen, meine Kindheit war eine schöne Zeit. Das war wirklich unbeschwert und dafür bin ich auch dankbar, weil ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist.“
„Das freut mich sehr, dass Sie solch positive Erinnerungen an Ihre Kindheit haben und ein so unterstützendes familiäres Umfeld erlebt haben“, antwortete ich. „Wie Sie schon sagen, das ist nicht immer selbstverständlich.“
Irgendetwas war merkwürdig in den Berichten von der Klientin. Irgendetwas Wichtiges fehlte. Ich konnte mir nach wie vor nicht wirklich einen Reim darauf machen, wie die von der Klientin vorgetragenen belastenden Emotionen mit ihr und ihrem Leben zu tun hatten. Bis hierher klang das Leben von Maria unauffällig, gar harmonisch. Extreme Gefühle von Trennung und Einsamkeit schien die Klientin, zumindest ihren Erzählungen zufolge, in ihrem bisherigen Leben nicht gemacht zu haben. Ich entschied mich, anders an die Sache heranzugehen.
„Gibt es denn auch Momente und Situationen, in denen Sie sich nicht einsam fühlen?“, fragte ich.
„Oh, ja“, entgegnete Maria. „Samstags um 15 Uhr 30.“
Ich schaute irritiert in die Kamera. Maria lachte.
„Da ist Bundesliga und ich bin mit meinem Mann im Stadion. Dauerkarte. Seit 50 Jahren. Dort haben wir uns auch mehr oder weniger kennengelernt.“
„Ach, Sie sind Fußballfan. Das ist ja interessant.“
Die Aussage von Maria erinnerte mich an ein Buch vom Psychotherapeuten Prof. Franz Ruppert, das ich vor Jahren mal gelesen hatte, in dem er die identitäts- und zugehörigkeitsstiftende Funktion der Rolle des Fußballfan-Daseins ausführlich beschrieben hatte. In diesem Buch erörtert er detailliert, anhand des Fußballkontexts, wie Fansein identitäts- und zugehörigkeitsbildend wirkt und damit auch der Einsamkeit entgegenwirken kann. Ruppert entwickelt die These, dass Individuen, denen in ihrer Lebensgeschichte adäquate Möglichkeiten zur Entwicklung einer eigenständigen Identität fehlten oder verwehrt blieben, tendenziell dazu neigten, sich ersatzweise Identitäten anzueignen, beispielsweise durch die starke Identifikation mit einem Sportverein. Vielleicht war das auch bei Maria der Fall, dachte ich für einen Moment.
„Und unter all den Leuten im Stadion fühlen Sie sich dann nicht mehr einsam oder wie?“, fuhr ich fort.
„Ach, nein“, wiegelte Maria ab. Mit den Leuten drumherum habe das gar nicht so viel zu tun. Beim Fußball sei die Welt für sie einfach in Ordnung. Da sei es wie früher. Unbeschwert, leicht.
Ich nickte und fragte, was denn zwischen früher und heute passiert sei, dass das Unbeschwerte und Leichte nicht mehr so präsent sei in Ihrem Leben und sich wenn nur am Samstagnachmittag zeigte.
Stille breitete sich auf der Leitung aus. Maria verharrte bewegungslos. Einen Augenblick lang befürchtete ich, die Verbindung sei unterbrochen, doch tatsächlich verharrte die Klientin einfach regungslos. Dann sagte sie:
„Pierre ist nicht mehr da.“
Ich fragte sanft nach: „Wer ist Pierre?“
„Mein Sohn.“ Maria begann zu weinen. Sie schluchzte tief. Ich verstand schnell, dass wir hier an einem bedeutsamen Punkt angekommen waren. Ich blieb ruhig und wartete ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Klientin wieder Fassung gewann und dann weitersprach.
„Wir haben zwei erwachsene Kinder. Unsere älteste Tochter Annika und Matthias. Eigentlich haben wir noch einen dritten Sohn, Pierre. Er und Matthias sind Zwillinge. Aber bei Pierre traten damals einige Tage nach der Geburt Probleme an der Lunge auf. Nach drei Wochen ist er dann verstorben.“
Maria begann erneut tief zu schluchzen.
"Ich kann mir kaum vorstellen, wie schmerzhaft das für Sie gewesen sein muss, Maria. Als Mutter ein Kind zu verlieren, ist eine ungeheure Belastung, besonders unter solch tragischen Umständen, wo man so machtlos ist. Zugleich mussten Sie sich um Ihr gesundes Kind kümmern, was die Situation noch herausfordernder gemacht hat, kann ich mir vorstellen."
„Es war einfach eine riesen Scheiße! Das wünscht man seinem größten Feind nicht.“, seufzte die Klientin.
Ich fragte Maria, wie sie mit dem Tod ihres Sohnes umgegangen sei.
„Irgendwie gar nicht, habe ich das Gefühl. Habe damals einfach funktioniert.“, antwortete sie, „ich hatte gar keine Zeit, mich um mich zu kümmern. Annika kam zu der Zeit gerade in die Schule und Matthias benötigte meine Aufmerksamkeit. Er konnte ja für die ganze Situation nichts und er hatte ja auch gerade seinen Bruder verloren. Deswegen habe ich mich zusammengerissen und weitergemacht. Mein Mann hat das meiste mit sich selbst ausgemacht. Ich habe es irgendwann nicht mehr in unserem Haus ausgehalten, deswegen sind wir damals auch umgezogen.“
Aus psychologischer Sicht wurde deutlich, dass Marias Gefühl der Einsamkeit tiefgreifende Wurzeln hat, die eng mit dem Verlust ihres Sohnes Pierre verbunden waren. Ich entschied mich, Maria auf die mögliche Verbindung zwischen Pierres Tod und ihrer heutigen Einsamkeit anzusprechen.
„Kann es sein, dass Ihre Einsamkeit, die Sie heute erleben, mit Pierre zu tun hat? Dass Sie sich so allein fühlen, weil Sie von Pierre getrennt sind?“
Maria begann erneut zu weinen. Es dauerte einige Zeit, bis Maria antwortete und fragte: „Sie meinen, dass ich mich so einsam fühle, weil ich Pierre vermisse?“
„Ja“, antwortete ich kurz und knapp.
So habe sie das noch nie betrachtet, sagte die Klientin, aber das mache für sie Sinn. Dass das Gefühl, das sie als Einsamkeit beschreibe, vielmehr eine Sehnsucht sei. Eine Sehnsucht nach ihrem verstorbenen Sohn.
„Ich habe die ganze Zeit gedacht, die Einsamkeit müsse etwas mit meiner aktuellen Lebenssituation zu tun haben. Dass ich einfach sozialer sein müsste oder irgendwas verändern müsste, damit die Einsamkeit weggeht. Dass das mit Pierre zu tun haben könnte, daran habe ich nicht gedacht. Ist ja auch schon so lange her. 33 Jahre. Sommer 1990. Damals ist Deutschland Weltmeister geworden. Deswegen auch Pierre. Wegen Pierre Littbarski. Mein Lieblingsspieler damals.“
„Und jetzt wissen wir auch, warum Sie sich am Samstagnachmittag im Stadion nicht mehr einsam fühlen“, antwortete ich mit einem leicht grinsenden.
„Weil ich Pierre da wieder nahe bin. Es ist wie 1990.“, stellte die Klientin fest.
„Das, was Sie als Einsamkeit schildern, ist vielleicht mehr eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Ihrem verstorbenen Sohn. Und die ist doch wohl absolut gerechtfertigt. Auch nach Jahrzehnten, meinen Sie nicht? Was wäre, wenn Sie das Gefühl gar nicht bekämpfen müssten, sondern vielmehr als eine Art Verbindung zu Pierre begreifen könnten, als eine Art unsichtbares Band, über das Sie mit ihm verbunden sind?“
„Das wäre sehr schön“, seufzte Maria, „und fühlt sich stimmig an.“
In den darauf folgenden Sitzungen haben wir uns intensiv mit dem Thema Pierre und den Auswirkungen seines Verlustes auf Maria und ihre Familie beschäftigt. Es war ein tiefgreifender Prozess, in dem Maria lernte, ihre mit Pierres Tod verbundenen Gefühle zu erkunden und zu verarbeiten. Wir arbeiteten daran, Pierre in Marias täglichem Leben und im familiären Kontext einen bewussteren Platz zu geben. Maria nahm sich die Zeit, mit ihren Kindern, insbesondere mit Matthias, über Pierre zu sprechen.
Dabei wurde deutlich, dass das Thema in der Familie lange Zeit nicht ausreichend präsent und bearbeitet worden war. Auch Annika zeigte sich offen für diese Gespräche, und Maria konnte sogar mit ihrem Mann tiefgehende Gespräche über Pierre führen. Diese offene Auseinandersetzung brachte zutage, dass die Erinnerung an Pierre und die damit verbundenen Emotionen bei allen Familienmitgliedern latent vorhanden waren, was bis dahin unausgesprochen im Raum stand. Durch diese gemeinsame Aufarbeitung hat sich innerhalb der Familie eine spürbare Veränderung vollzogen.
Maria berichtete von einem gestiegenen Zusammengehörigkeitsgefühl und einer neuen Qualität der familiären Beziehungen. Sie hat für sich einen Weg gefunden, regelmäßig mit Pierre zu "sprechen". Obwohl sie weiß, dass keine Antwort kommt, empfindet sie diese Momente als tröstlich und verbindend. Diese neue Praxis hat nicht nur Marias Alltag bereichert, sondern auch das familiäre Miteinander positiv beeinflusst. Es scheint, als hätte die gemeinsame Auseinandersetzung mit Pierres Tod und dessen Bedeutung für jeden Einzelnen etwas in der Familie gelöst, was zu einer tieferen Verbundenheit und Entspannung im alltäglichen Leben geführt hat.
Dieses Fallbeispiel verdeutlicht eindrucksvoll, wie komplex und vielschichtig das Gefühl der Einsamkeit sein kann. Es zeigt, dass Einsamkeit nicht nur eine emotionale Reaktion, sondern auch eine Funktion erfüllen kann, indem sie uns dazu bringt, uns tiefergehenden, vielleicht unterbewussten Themen zu widmen. In Marias Fall führte die Auseinandersetzung mit ihrer Einsamkeit zur Bearbeitung der lang verborgenen Trauer des Verlusts ihres Sohnes Pierre. Dies unterstreicht, dass Einsamkeit nicht ausschließlich negativ zu betrachten ist, sondern auch als ein Wegweiser dienen kann, der aufzeigt, was in unserem Innersten noch Aufmerksamkeit und Heilung benötigt.
Einsamkeit ist somit mehr als nur ein Symptom einer mangelnden Verbindung zu anderen Menschen; sie kann auch ein Spiegel sein, der uns auf innere Konflikte oder ungelöste emotionale Verletzungen hinweist. Die Bearbeitung und Integration solcher Themen kann letztlich zu einer größeren inneren Freiheit und zu einer Stärkung der Beziehungen im Außen führen, wie das Beispiel von Maria und ihrer Familie zeigt.
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