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December 27, 2024

Selbstsabotage: Ein Mythos, den wir hinterfragen sollten

Relievr
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Abstraktes Porträt: Eine Frau in kontrastreichen Rot- und Blautönen, die sich nachdenklich zeigt und im unteren Bereich wie eine gespiegelte Version erscheint.
Text zuletzt aktualisiert am
17.1.2025
Geschätzte Lesezeit: ca.
5
min.

Jeder kennt diese Momente: Man nimmt sich fest vor, etwas für sich selbst zu tun – ins Bett zu gehen, bevor Mitternacht längst vorbei ist, endlich den Job zu wechseln oder schlicht Nein zu sagen, wenn der innere Akku leer ist. Doch dann tut man das Gegenteil. Handy in der Hand, Augen halb geschlossen, eine weitere Stunde vergeht. Oder man sagt Ja zu einer weiteren Verpflichtung, obwohl man genau weiß, dass man keine Kraft mehr hat.

Das Wort dafür ist schnell gefunden: Selbstsabotage. Ein Begriff, der uns suggeriert, dass wir uns absichtlich im Weg stehen. Aber ist das wirklich so? Sabotieren wir uns tatsächlich selbst – oder steckt hinter diesem Verhalten etwas ganz anderes?

Alte Muster, neue Situationen

Das Bild von der Selbstsabotage trägt eine Annahme in sich: Dass wir bewusst gegen unser eigenes Wohl arbeiten. Aber die Realität ist oft viel komplexer. Wer genau hinschaut, entdeckt nicht bewusste Sabotage, sondern Überlebensstrategien, die wir uns in der Vergangenheit angeeignet haben. Strategien, die früher Sinn gemacht haben, in unserem heutigen Leben aber wie ein falsches Programm weiterlaufen.

Ein Beispiel: Eine Frau, die als Kind in einer Umgebung aufwuchs, in der sie oft zurechtgewiesen oder ignoriert wurde, hat vielleicht gelernt, sich anzupassen und ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, um Konflikte zu vermeiden. Heute, als Erwachsene, könnte genau dieses Muster dazu führen, dass sie nicht Nein sagt, wenn sie es eigentlich möchte – selbst wenn sie sich damit auslaugt.

Auch Freude kann für viele Menschen ein schwieriges Gefühl sein. Es klingt paradox, aber wer in der Vergangenheit gelernt hat, dass Freude schnell mit Strafe oder Verlust verbunden war, könnte sich unbewusst davor zurückziehen. Freude fühlt sich dann nicht wie ein sicherer Zustand an, sondern wie ein Vorbote von Schmerz. Das ist keine bewusste Entscheidung – es ist eine tief sitzende Verknüpfung im Nervensystem.

Warum wir uns „unlogisch“ verhalten

Ein häufiges Merkmal dieser alten Muster ist ihre Ambivalenz: Wir wollen etwas – eine erfüllte Beziehung, Erfolg im Beruf, mehr Ruhe – und doch handeln wir oft entgegengesetzt. Wir streiten mit dem Partner, obwohl wir uns Nähe wünschen. Wir prokrastinieren, obwohl uns die Deadline im Nacken sitzt. Wir bleiben in Jobs, die uns unglücklich machen, obwohl wir uns nach Veränderung sehnen.

Dieses Verhalten wirkt von außen betrachtet oft „unlogisch“. Doch wenn wir tiefer schauen, ergibt es Sinn. Menschen bleiben nicht in toxischen Beziehungen oder schädlichen Arbeitsumfeldern, weil sie sich selbst schaden wollen. Sie bleiben, weil diese Situationen – so destruktiv sie auch sein mögen – etwas Vertrautes und dadurch vermeintlich Sicheres bieten. Das Unbekannte, der Sprung ins Neue, fühlt sich für viele bedrohlicher an als das Bekannte, auch wenn das Bekannte wehtut.

Das erklärt auch, warum wir oft gegen unsere eigenen Ziele arbeiten. Nicht, weil wir sie nicht wirklich wollen, sondern weil sie oft mit alten, unbewältigten Ängsten verknüpft sind. Der Wunsch nach einer erfüllten Beziehung könnte etwa die Angst vor Zurückweisung aktivieren. Der Traum von beruflichem Erfolg könnte alte Zweifel wecken: Bin ich gut genug? Verdiene ich das überhaupt?

Das Nervensystem sucht Sicherheit

Die Wurzel dieser Dynamiken liegt in unserem Nervensystem. Als Kinder sind wir darauf angewiesen, Sicherheit in unserer Umgebung zu finden. Wenn diese Sicherheit nicht gegeben ist, passen wir uns an. Wir entwickeln Strategien, um Konflikte zu vermeiden, Nähe zu suchen oder schlicht zu überleben. Diese Strategien waren damals sinnvoll – doch unser Nervensystem unterscheidet nicht automatisch zwischen damals und heute. Es greift auf das zurück, was es kennt, und versucht, Sicherheit zu schaffen, selbst wenn die Umstände längst andere sind.

Ein Beispiel dafür ist die Angst vor Freude. Freude aktiviert unser sympathisches Nervensystem, das auch in Stresssituationen aktiv ist. Wer nicht gelernt hat, den Unterschied zwischen positiver und negativer Aufregung zu spüren, könnte unbewusst Freude mit Gefahr verwechseln. Das Ergebnis: Wir vermeiden Situationen, die uns glücklich machen könnten, weil sie sich bedrohlich anfühlen.

Der Begriff „Selbstsabotage“ ist irreführend, weil er uns dazu verleitet, uns selbst die Schuld für unser Verhalten zu geben. Doch Schuld hilft uns nicht weiter. Was wir stattdessen brauchen, ist Verständnis – für die Mechanismen, die in uns wirken, und für die Gründe, warum sie überhaupt entstanden sind.

Statt zu fragen, warum wir uns „selbst sabotieren“, könnten wir uns fragen: Was versuche ich gerade zu schützen? Welche alten Ängste oder Prägungen beeinflussen mein Verhalten? Und wie kann ich diesen Teil von mir sicherer machen, damit er loslassen kann?

Die Antwort liegt nicht in Selbstkritik, sondern in Selbstmitgefühl. Es geht darum, die alten Muster zu erkennen, sie anzunehmen und nach und nach zu verändern. Das ist kein schneller Prozess, aber er ist möglich – und er beginnt mit der Bereitschaft, hinzuschauen und zu verstehen.

Selbstsabotage ist ein Mythos

Am Ende bleibt eine wichtige Erkenntnis: Selbstsabotage gibt es nicht. Niemand steht sich selbst absichtlich im Weg. Was wir als Selbstsabotage erleben, sind Schutzstrategien, die einst lebenswichtig waren. Sie verdienen keine Verurteilung, sondern unsere Anerkennung – und die Chance, durch neue, gesündere Wege ersetzt zu werden. Denn genau darin liegt der Schlüssel: Nicht im Kampf gegen uns selbst, sondern in der liebevollen Arbeit mit uns selbst.