Die Elternrolle zu übernehmen, lange bevor man selbst erwachsen ist – dafür gibt es einen Fachbegriff in der Psychologie: Parentifizierung. Das Wort leitet sich aus dem Englischen „parent“ (Elternteil) ab und beschreibt das Phänomen, dass Kinder elterliche Verantwortung tragen müssen, weil die tatsächlichen Eltern ihre Rolle nicht vollumfänglich ausfüllen (können). Parentifizierung kann viele Facetten haben und hat oft tiefgreifende Auswirkungen auf die psychische Entwicklung der betroffenen Kinder. In diesem Artikel möchte ich einen Blick hinter die Kulissen dieses Phänomens werfen – mit echten Beispielen, psychologischem Hintergrundwissen und Hinweisen auf mögliche Wege aus dieser belastenden Dynamik.
Parentifizierung bedeutet, dass das Kind in weiten Teilen die Rolle eines Fürsorgers oder emotionalen Stütze für seine Eltern oder andere Familienmitglieder übernimmt. Konkret kann das so aussehen:
• Emotionale Parentifizierung: Das Kind tröstet, unterstützt oder berät den Elternteil bei dessen Sorgen und Problemen. Häufig wird das Kind zur Anlaufstelle für Probleme, die eigentlich zwischen Erwachsenen geklärt werden müssten.
• Instrumentelle Parentifizierung: Das Kind übernimmt im Haushalt übermäßig viele Aufgaben (z. B. Kochen, Geschwister versorgen, finanzielle Angelegenheiten regeln). Manchmal ist es sogar das Kind, das wichtige Entscheidungen trifft, statt dass die Eltern diese Verantwortung übernehmen.
Beide Formen können auch gleichzeitig auftreten und sich gegenseitig verstärken.
Die Gründe, warum Kinder in die Elternrolle gedrängt werden, sind vielfältig:
• Krankheiten oder Abhängigkeit: Ein Elternteil ist möglicherweise körperlich oder psychisch krank (z. B. schwere Depression, Suchtproblematik) und kann sich nicht ausreichend kümmern.
• Alleinerziehend ohne Netzwerk: Wenn ein alleinerziehender Elternteil kein stabiles soziales Netz hat, kann es passieren, dass das Kind als quasi „zweiter Erwachsener im Haushalt“ fungieren muss.
• Immaterielle und finanzielle Belastungen: Arbeitslosigkeit, finanzielle Instabilität oder unsichere Lebensumstände können Eltern so stark stressen, dass sie ungewollt die emotionale Verantwortung an das Kind abgeben.
• Kulturelle oder familiäre Muster: In manchen Kulturen oder Familien wird es als normal empfunden, dass Kinder früh erwachsen werden und Verantwortung tragen. Wenn das über das übliche Maß hinausgeht, entsteht Parentifizierung.
Julias Mutter war depressiv und zog sich abends mit ihren Sorgen häufig ins Schlafzimmer zurück. Julia hatte dabei das Gefühl, sie „retten“ zu müssen – sie brachte ihrer Mutter Essen ans Bett, überzeugte sie, nicht aufzugeben, und übernahm die Rolle einer seelischen Stütze. Das führte dazu, dass Julia schon mit zehn Jahren mehr Verantwortung übernahm, als für ihr Alter angemessen war.
Ben übernahm in seiner Familie nicht nur den Haushalt, sondern auch das Organisieren wichtiger Termine. Während seine Mutter als Alleinerziehende zwei Jobs hatte und kaum Zeit für bürokratische Dinge fand, rief Ben beim Versicherungsbüro an oder klärte mit dem Vermieter Reparaturen der Wohnung. Für einen Teenager waren das enorme Lasten. Sein eigenes Leben – Schule, Hobbys, Treffen mit Freunden – litt deutlich darunter.
Samiras Vater war stark traumatisiert, nachdem er in einen schweren Unfall verwickelt war. Monatelang tat sich der Vater schwer damit, wieder Fuß im Alltag zu fassen und entwickelte Angststörungen. Samira wurde zur Haupt-Ansprechpartnerin: Sie hörte sich stundenlang seine Ängste und Unruhen an, sprach ihm Mut zu und rief teilweise in psychiatrischen Kliniken an, um Hilfsangebote zu erfragen. Durch diese emotionale Parentifizierung hatte Samira oft das Gefühl, dass sie „keinen Raum“ für ihre eigene Teenager-Probleme habe.
• Chronische Überforderung
Kinder spüren permanent ein Gefühl von Verantwortung, das weit über ihren Entwicklungsstand hinausgeht. Das führt zu Stress, der sich langfristig in psychosomatischen Beschwerden (z. B. Schlafstörungen, Kopfschmerzen) oder Burnout-ähnlichen Zuständen äußern kann.
• Identitäts- und Beziehungsprobleme
Weil betroffene Kinder früh lernen, sich an die Bedürfnisse anderer anzupassen, fällt es ihnen später oft schwer, die eigene Identität zu entwickeln. Als Erwachsene haben sie nicht selten Mühe, gesunde Grenzen zu setzen und in Beziehungen die Balance zwischen Geben und Nehmen zu finden.
• Schuldgefühle und Selbstzweifel
Eltern-Kind-Beziehungen sind sehr tiefgehend. Empfinden Kinder, dass es den Eltern schlecht geht, beziehen sie das unbewusst oft auf sich. Geht es den Eltern dann dank ihres Einsatzes besser, verstärkt das nur das innere Muster: „Ich muss das tun, sonst zerbricht die Familie.“
• Probleme bei der Bewältigung von Krisen im Erwachsenenalter
Manche Betroffene entwickeln zwar ein starkes Verantwortungsbewusstsein und hohe Resilienz. Gleichzeitig kann aber das Ausmaß an Verantwortungsübernahme in Krisen später zur Erschöpfung führen, weil die Person alle Probleme auf sich lädt. Der eigene Selbstschutz bleibt oft auf der Strecke.
Parentifizierung endet nicht automatisch mit dem Auszug aus dem Elternhaus oder dem Erreichen der Volljährigkeit. Viele ehemals parentifizierte Kinder tragen ihr übermäßiges Verantwortungs- und Fürsorgegefühl in das Erwachsenenleben hinein. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass sie:
• Starke Loyalitätsgefühle gegenüber den Eltern verspüren und sich weiterhin für deren Wohlergehen verantwortlich fühlen, obwohl sie längst eigene Lebenswege eingeschlagen haben.
• Konfliktscheu oder überangepasst sind, weil sie als Kinder gelernt haben, Streit zu vermeiden und „funktionieren zu müssen“, um den familiären Frieden zu wahren.
• Verhaltensmuster in Beziehungen wiederholen, indem sie den Part des Kümmerers oder der Retterin übernehmen, während die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund rücken.
Da parentifizierte Kinder schon früh Strategien entwickeln mussten, um Stabilität und Sicherheit herzustellen, behalten sie diese oft bei. Sie fühlen sich für das emotionale Wohlbefinden anderer verantwortlich und neigen dazu, eigene Emotionen zu unterdrücken. Das kann in engen Beziehungen (Partnerin, Freundinnen, Arbeitskolleginnen) dazu führen, dass sie sich kaum abgrenzen können – die Sorge, jemanden zu enttäuschen oder zu verletzen, ist übermächtig. Insbesondere im Verhältnis zu den eigenen Eltern zeigt sich dies in einer fortdauernden Abhängigkeit: Das erwachsene Kind glaubt, weiterhin in die Bresche springen zu müssen, wenn Probleme auftreten, sei es finanzieller Natur oder bei Konflikten mit Behörden, Nachbarinnen oder anderen Familienmitgliedern.
In partnerschaftlichen Beziehungen kann sich das früh gelernte Muster äußern, indem ehemals parentifizierte Erwachsene:
• Überverantwortung übernehmen: Sie erledigen häufig sämtliche Haushaltsaufgaben oder treffen wichtige Entscheidungen alleine, weil sie es gewohnt sind, die „Führung“ zu übernehmen – so wie sie es in der Kindheit für ihre Familie tun mussten.
• Schwierigkeiten bei der Selbstfürsorge haben: Weil die eigenen Bedürfnisse kaum Raum hatten, ist es für sie herausfordernd, Zeit für sich einzufordern oder „Nein“ zu sagen.
• Leistungsdruck und Perfektionismus entwickeln: Oft geht eine innere Überzeugung damit einher, immer stark, kompetent und belastbar sein zu müssen. Schwäche zu zeigen oder um Unterstützung zu bitten, fällt schwer und wird manchmal sogar als Versagen empfunden.
Auch im Arbeitsleben kann sich Parentifizierung bemerkbar machen. Wer in der Kindheit das Gefühl hatte, die Familie zusammenhalten zu müssen, wird häufig zum „Kümmerer“ im Team: Man übernimmt mehr Verantwortung als die Stellenbeschreibung vorsieht, übernimmt Projekte anderer oder überarbeitet sich, um Anerkennung oder Sicherheit zu finden. Das Ergebnis: ein erhöhtes Risiko für Burnout und Erschöpfungsdepression. Gleichzeitig können betroffene Personen durch ihre hohe Belastbarkeit und ihr Verantwortungsbewusstsein im Job erfolgreich sein, neigen aber dazu, Warnsignale des eigenen Körpers und der Psyche zu überhören, weil sie das Gefühl haben, nicht schwach sein zu dürfen.
• Therapeutische Aufarbeitung: Um die eigenen Verhaltensweisen und Glaubenssätze zu erkennen, kann eine Psychotherapie oder ein Coaching helfen. Besonders wirksam ist dabei, die familiären Dynamiken (ggf. in systemischer Therapie) zu durchleuchten und eigene Emotionen neu zu sortieren.
• Boundary-Work: Grenzen setzen ist für ehemals parentifizierte Menschen oft ungewohnt. Hier hilft es, in kleinen Schritten zu üben, beispielsweise bewusst zu überlegen: „Wo fühle ich mich unwohl? Wo sage ich Ja, obwohl ich eigentlich Nein meine?“
• Eigene Bedürfnisse entdecken: In der Kindheit war kein Platz dafür, doch im Erwachsenenalter ist es umso wichtiger, Wünsche und Interessen zuzulassen. Sich selbst zu fragen: „Was möchte ich eigentlich?“ oder „Was brauche ich gerade?“ kann ein wichtiger Schritt zum gesunden Umgang mit sich selbst sein.
• Offene Kommunikation: Wer Eltern oder andere Familienangehörige emotional getragen hat, muss meist erst lernen, sich zu lösen – ohne Schuldgefühle. Das kann bedeuten, authentisch zu sagen, dass man Hilfe braucht oder dass man nicht mehr die alleinige Stütze sein will.
Parentifizierung kann sich tief in die Psyche eingraben und weit über die Kindheit hinaus Nachwirkungen zeigen. Für viele ehemals parentifizierte Erwachsene bleibt die innere Überzeugung bestehen, für andere verantwortlich zu sein, was nicht selten in Überforderung und Beziehungskonflikten mündet. Der Schlüssel zur Veränderung liegt darin, diese Muster bewusst zu erkennen und neue Verhaltensweisen zu erlernen. Das bedeutet vor allem, Selbstfürsorge zu praktizieren, gesunde Grenzen zu setzen und zu akzeptieren, dass man nicht jede Verantwortung tragen muss. Mit professioneller Unterstützung und einem bewussten Blick auf die eigenen Bedürfnisse ist es möglich, Schritt für Schritt alte Rollen abzulegen und freiere, gesündere Beziehungsstrukturen aufzubauen.