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February 11, 2025

Ghosting verstehen: Ein Blick auf die Hintergründe und Dynamiken

Relievr
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Symbolbild: Person verschwindet aus einer Unterhaltung – metaphorische Darstellung von Ghosting und abrupten Kontaktabbrüchen in Beziehungen
Text zuletzt aktualisiert am
11.2.2025
Geschätzte Lesezeit: ca.
7
min.

Ghosting: Ein Wort, das längst zum festen Bestandteil unseres Sprachgebrauchs geworden ist und doch immer wieder Fragen aufwirft. Warum verschwindet eine Person aus unserem Leben, ohne ein Wort zu sagen? Oder was treibt uns selbst dazu, jemanden von heute auf morgen zu „löschen“? Wer jemals gegoastet wurde, kennt das Gefühl, vor verschlossener Tür zu stehen, ohne Erklärung und ohne die Möglichkeit, sich zu verabschieden. Wer selbst schon einmal den Kontakt klammheimlich abgebrochen hat, spürt vielleicht später ein diffuses Unbehagen oder gar Schuldgefühle. Ghosting ist keine moderne Marotte – im Kern geht es um uralte Ängste und Abwehrmechanismen, die uns alle in unterschiedlichen Lebensphasen betreffen können.  

Wenn lange Freundschaften plötzlich enden

Besonders schmerzlich wird Ghosting, wenn es langjährige Beziehungen trifft. Stellen wir uns zwei enge Freundinnen vor, die gemeinsam durch dick und dünn gegangen sind, sich seit dem Studium kennen und anfangs unzertrennlich waren. Irgendwann, Jahre später, bricht eine der beiden den Kontakt scheinbar grundlos ab. Sie beantwortet keine Nachrichten mehr, reagiert nicht einmal auf die frohe Botschaft einer Geburt oder den Hinweis, dass etwas wirklich Wichtiges in der anderen Familie passiert ist. Die Zurückgelassene steht fragend da: Habe ich etwas falsch gemacht? Ist die andere Person in einer Krise? Wieso wäre sie sonst so wortkarg und abweisend?  

Manchmal ist die Erklärung gar nicht in einem konkreten Streit zu finden, sondern in einer sich schleichend verändernden Dynamik. Wenn zwei Menschen sehr eng gewesen sind, kann eine innige, fast symbiotische Nähe entstehen, die im Alltag allerdings immer schwerer zu halten ist. Neue Lebensphasen kommen hinzu, vielleicht eine Familiengründung oder berufliche Herausforderungen. Wer einst alles miteinander teilte, muss plötzlich lernen, mit einer gesünderen Distanz umzugehen. Nicht jeder schafft das auf Anhieb. In solchen Momenten kann Ghosting als vermeintlich bequeme (wenn auch schmerzhafte) Lösung erscheinen: Statt sich dem Trennungsschmerz zu stellen, kappt man den Kontakt, als wollte man alle Erinnerungen im Handstreich beiseiteschieben.  

Die unbewusste Flucht ins Schweigen

Ghosting geschieht aber nicht nur in langjährigen Freundschaften, sondern auch bei flüchtigeren Bekanntschaften. Interessant ist, dass viele, die selbst zum „Ghoster“ werden, oft gar nicht so genau begreifen, warum sie so handeln. Da gibt es die typische Situation, in der man nach einer gemeinsamen WG-Zeit den einstigen Mitbewohner oder die Mitbewohnerin einfach ignoriert, obwohl es eigentlich keine großartige Auseinandersetzung gab. Erst im Nachhinein dämmert: Ich fühlte mich damals unterdrückt, an meine Vergangenheit erinnert, vielleicht an autoritäre Familienstrukturen oder schwierige Erfahrungen, die ich möglichst vermeiden wollte. Statt meine Gefühle anzusprechen, habe ich den Kontakt einfach einschlafen lassen, weil ich glaubte, Konflikte so umgehen zu können.  

Wenn man sein eigenes Verhalten reflektiert, kann man manchmal sogar Wiedergutmachung leisten. Ein späteres Gespräch mit der ehemals gemiedenen Person kann überraschend klärend sein. Beide Seiten begreifen, dass da unbewusste Muster am Werk waren, die nichts mit böswilliger Absicht zu tun hatten. Vielleicht steht dann die Möglichkeit einer erneuten Freundschaft im Raum, die sogar tiefer gehen kann als zuvor, weil nun klar ist, welche „Geister“ in einem selbst spuken.  

Ghosting als Machtinstrument

In der Dating-Welt wird Ghosting häufig zum echten Minenfeld. Da entstehen Beziehungen oder Flirts, in denen es anfangs vermeintlich nur um Spaß, Abenteuer oder ein unverbindliches Kennenlernen geht. Doch sobald der eine spürt, dass die andere Person mehr will – sei es Nähe, Verbindlichkeit oder Anerkennung – kann ein unbewusster Machtkampf beginnen.  

Es gibt Personen, die bewusst damit spielen, andere an sich zu binden und dann wieder wegzustoßen. Kurze Nachrichten, lange Funkstille, dann doch wieder ein Anruf: So hält man das Gegenüber in einem Gefühl der Unsicherheit. Woher kommt dieses Bedürfnis, andere hängen zu lassen? Oft steckt dahinter die Angst, selbst verletzt oder entzaubert zu werden. Wer sich nie ganz offenbart, läuft weniger Gefahr, abgelehnt zu werden. Auf der Oberfläche wirkt dieser Mensch selbstbewusst und unabhängig. Doch in Wahrheit herrscht eine große Scheu vor echter Intimität. Der andere wird verachtet oder zumindest herabgesetzt, sobald er Zuneigung zeigt. Das verleiht scheinbar Kontrolle, verhindert aber jede echte Verbundenheit.  

Das komplexe Spiel von Nähe und Abgrenzung

Ghosting lässt sich also in vielen Fällen als Flucht verstehen: Flucht vor der eigenen Unsicherheit, Angst vor Abhängigkeit oder der Konfrontation mit inneren Konflikten. Wer ghostet, muss sich nicht erklären. Wer gegoastet wird, bleibt mit Fragen zurück und hat keine Chance auf Abschluss. Dieses Aufgeschobensein kann seelisch stark belasten. Immerhin spüren wir, dass wir eine wichtige Rolle verlieren, dass wir in der Schwebe hängen, ohne Klarheit darüber, ob wir uns an etwas schuldig gemacht haben oder die andere Person schlicht aus ihrer eigenen Angst heraus gehandelt hat.  

Gerade in engen Verbindungen ist Ghosting so belastend, weil es die Trauer um das, was war, blockiert. Wenn wir verlassen werden, ohne es „richtig“ zu erfahren, ist das ähnlich schwer wie ein Abschied, bei dem wir keine Möglichkeit zum letzten Gespräch haben. Die Beziehung wird zum Geist, der uns verfolgt, weil sie nie einen klaren Endpunkt gefunden hat.  

Ein Blick hinter die Fassade

Wer in der Rolle der Zurückgebliebenen ist, braucht oft lange, um den Verlust zu verarbeiten. Manche fangen an, die eigene Schuld zu suchen, andere werden wütend, wieder andere ignorieren es und hoffen, dass es keine Narben hinterlässt. Doch Ghosting verweist in vielen Fällen auf ein tieferes Muster: eine Unfähigkeit, mit Konflikten und Gefühlen umzugehen, sei es aus Scham, Angst oder einem übermächtigen Bedürfnis nach Kontrolle.  

Die eigentliche Erkenntnis kann dabei sein, dass Ghosting in aller Regel kein Zeichen dafür ist, dass wir als Person wertlos wären. Vielmehr spiegelt es Probleme aufseiten dessen, der ghostet. So kann der Verlassene immerhin lernen, seinen Selbstwert nicht nur von der Gunst eines anderen abhängig zu machen. Umgekehrt kann jemand, der wiederholt zum Ghoster wird, sich fragen: Welche Angst hält mich davon ab, aufrichtige Gespräche zu führen und echte Nähe zuzulassen?  

Wenn Schweigen lauter als Worte ist

Am Ende bleibt die Einsicht: Ghosting ist Ausdruck komplexer innerer Dynamiken. Mal ist es ein Versuch, eine verschmolzene Beziehung abrupt zu kappen, mal dient es als Schutz vor Verletzung oder als Machtdemonstration. Es gibt Situationen, in denen ein völliger Rückzug den einzig möglichen Ausweg zu bieten scheint, gerade wenn vorher alle Grenzen überschritten wurden und man sich nicht anders zu helfen weiß. In den meisten Fällen aber bewirkt Ghosting noch mehr Unklarheit und Schmerz.  

Wer die Mechanismen versteht, erkennt, dass hinter diesem Verhalten nicht nur Unhöflichkeit oder Oberflächlichkeit stecken, sondern oft ein tiefer Konflikt mit Nähe, Autonomie und der eigenen Verletzlichkeit. Statt jemanden einfach auf stumm zu schalten und sich zu verkriechen, lohnt es sich, den Mut zum Gespräch aufzubringen. Denn gerade dort, wo wir hinsehen und erkennen, kann sich Heilung vollziehen – und sei es durch einen ehrlichen Abschied, der den Namen verdient.